Tom Liwa mit Flowerpornoes - Umsonst und draussen

Veröffentlicht am: 23. Oktober 2015

Tonträger

Tracklist

01. Hayonedop
02. Planetenkind
03. Kuya
04. Jahre des Verrats
05. Papa
06. Wo wird mein neues Zuhause sein
07. Wir sind die Beatles
08. Federkleid
09. Spawn
10. Fünf Tote in Blablabla
11. Ophelia
12. Kuya Reprise
13. Die Krähe
14. Ahoi kleiner Dampfer
15. KP
16. DAE
17. Falsch bei Neil Young
18. Hochmoor
19. Der Trost der Dinge
20. Kuya (Slight Return)

Medien

Beschreibung

Liwa heißt ein Dorf im Oman, im Osten der arabischen Halbinsel, am Persischen Golf. In dem ganzjährig trockenen Klima brennt im Sommer die Sonne zu heiß, um sich länger draußen aufzuhalten. Wegen der hohen Verdunstungsrate nutzen die Einwohner deshalb schon seit einigen Tausend Jahren Qanate. So heißen die Brunnen und von ihnen ausgehende Kanäle und Schächte, welche unterirdisch Süßwasser in alle Richtungen führen. Das Bewässerungssystem ermöglicht den Anbau von Unmengen von Datteln, dazu von Zitrusfrüchten, Bananen, Mangos und Tomaten.
Auch der Maler, Schriftsteller, Sänger und Gitarrist Tom Liwa lässt sich als Brunnen mit angeschlossenen Kanälen und Schächten beschreiben, die seit den späten siebziger Jahren seine Bilder, Texte und Musik an ungezählte Orte und Plätze fließen lassen.
Tom Liwa ist 56 Jahre alt und aus Deutschland. Er experimentiert mit unterschiedlichster Musik. Hauptsächlich ist er aber für seine psycho- und autobiographischen Lieder bekannt, die er mal mit kristallklarer und mal mit mit fast gebrochener Stimme singt und auf bisher 25 Alben veröffentlicht hat. Sie alle zeigen sowohl Tom Liwas Interesse für Kosmologie und Banales als auch seine Gabe, beides sehr unterhaltsam zu verbinden.
Tom Liwa hat unter anderem mit dem Tim Isfort Orchester, dem Paradies der Ungeliebten und nicht zuletzt mit den Flowerpornoes zusammengearbeitet , aber in jeder seiner Bands steckte und steckt noch eine weitere Band. Denn selbst wenn sich Tom Liwa ohne personelle Verstärkung und vermeintlich allein auf den Weg zu Auftritten oder Recording Sessions macht, sind immer zwei unterwegs: Tom Liwa und das Wort, das ihm auf der Zunge liegt. Tom Liwa und die Melodie, die er im Gefühl hat. Wohin die Reise auch geht, sein Ziel erreicht Tom Liwa Stadt für Stadt und Studio für Studio in Gesellschaft neuer Lieder.
Es gab Ende 2013 einen Moment, an dem ich eigentlich so weit war, keine Platte mehr machen zu wollen.  Oder zumindest keine Musik mehr in der Öffentlichkeit, höchstens noch in privaten Zusammenhängen.  Weil mir die gesamten Strukturen, in denen sich speziell die Popmusik, aber auch die Kunst allgemein heute bewegt,  so zuwider waren, dass ich darin nicht mehr stattfinden wollte.“

Was wäre das für ein Verlust gewesen. Noch weit mehr für uns, die Hörer seiner zu Songs geronnenen Ansichten und Einsichten eines freudvollen Danebenlebens, als für ihn, den Duisburger, der mittlerweile im Grünen lebt und schon vor Jahren andere Beschäftigungen und Inhalte fand, die inzwischen mindestens gleichwertig neben der Musik stehen. Da sind nicht etwa nur seine Kinder, die er drei Jahre lang alleinerziehend großzog. Da ist auch die Energiearbeit mit vielen Menschen, eine professionelle Führung und Reise in das eigene Unterbewusste und damit zu einer Ganzheitlichkeit von Körper, Geist und Seele, mithin: des Seins als solchem. Doch für die meisten ist Liwa eben der feinsinnige Beobachter, der das Leben mit treffenden freigeistigen Worten abbildet und in zeitlose Lieder formt, die häufig überraschend und immer eigen, nie aber kapriziös oder verkünstelt klingen und damit schon vielen zum Lebens-Soundtrack wurden – in der Vergangenheit aber manchmal doch zu wenige, um die Musik als alternativlose Lebensaufgabe zu begreifen. „Der Weg, den ich mit den Flowerpornoes gegangen bin, dürfte in Deutschland recht einzigartig sein“, sagt Liwa. „Vom nächsten großen Ding über den ewigen Geheimtipp bis hin zur Kultband für die etwas besser informierte IndieSubkultur“, lacht er – ohne jede Note von Bitterkeit. Mal mit lautem Indierock, dann im Schulterschluss mit ganzen Orchestern oder auch mal ganz allein nur mit einer Ukulele: Es gab schon so viele Tom Liwa-Akzente, dass darunter jeder fündig würde, der ihm einfach mal zuhört. Liwas Aufrichtigkeit und Unverbiegbarkeit klingt in wohl jedem Song mit.

Gerade seine Ehrlichkeit führte nach dem 2012 veröffentlichten Quasi-Comeback-Album der 1985 gegründeten Flowerpornoes mit dem Titel „Ich liebe Menschen wie ihr“ zu einer Zäsur, die auch anders hätte enden können. „Als ich aufgewachsen bin, habe ich wie viele andere ein sehr tiefes Maß an Identifikation über die Musik gefunden“, erzählt er. „Über die Jahre bekam ich immer mehr das Gefühl, dass das eine trügerische Sache ist, dass Musik im Kapitalismus einfach nicht funktionieren kann. Denn selbst wenn Inhalte von Rebellion vertreten werden, führt das nur dazu, dass jemand bestätigt wird in dem Weltbild, in dem er sich sowieso bewegt, dass man sich dort sehr wohlig fühlen kann und eingelullt wird. Dieses Star-System gilt nicht nur in großen Zusammenhängen, sondern trägt sich hinein bis in kleinste kulturelle Zusammenhänge. Ich dachte: Wenn jemand das machen möchte, kann er das gern tun. Aber für mich hat das  nicht mehr gepasst.“

Nun ist Tom Liwa ein Mensch, der gerade solche Veränderungen und Erkenntnisse meist zum Anlass nahm, darüber zu schreiben. Wie aber schreibt und macht man Kunst in einem Kultur-System, das man für grundfalsch hält? Kann man ein System kritisieren, ohne das diese Kritik überhaupt kein Gehör fände? Eine verzwickte Situation – für Tom Liwa folgte konsequenterweise zunächst der totale Rückzug. „Es gibt für einen Künstler nur noch zwei Paradigmen, die seinen Wert bestimmen“, sinniert Tom: „Da ist der Markt – wo man eben sagt, dass die Musik Tausenden oder Millionen gefällt und damit seine Berechtigung hat – und das andere ist die Förderkultur, die Kunst an sich als wertvoll erklärt. Beides entsteht aus einer fragwürdigen Perspektive, wenn man bedenkt, dass Kunst von ihrem Ursprung her eigentlich etwas ganz anderes sein könnte – und auch mal war: eine Ausdrucksform, die soziale, spirituelle und politische Zusammenhänge begleitet und manifestiert. Die Kultur von heute bewegt sich aber nur noch zwischen diesen beiden Schraubklemmen. Da findet eine Vereinnahmung statt, die für mich nicht mehr funktionierte.“

Denn das Letzte, was Tom Liwa wollte, wäre eine Form von Selbstbetrug. Bei einem, dessen Texte das Innen ebenso betrachten wie ihr anschließendes Veräußern und die Reaktion der Welt darauf, ist bereits der Versuch von Gleichgültigkeit gegenüber den Strukturen eine Form der Täuschung seiner eigenen Ideale. Gerade das mag  mit dafür verantwortlich sein, dass ihm in drei Jahrzehnten Auseinandersetzung mit Musik und der Frage nach ihrer Aufrichtigkeit nie das Feedback zuteil wurde, das ihm zustünde. Viele vergleichbar Suchende und Angetriebene des Kulturbbetriebs, etwa Sven Regener, Wiglaf Droste oder Funny van Dannen, verhalfen ähnliche Startbedingungen peu a peu zum Dasein als subkulturelle Stilikonen. Liwa bediente derweil von Duisburg aus weiter die tatsächliche Subkultur, bildete sie ab, lebte sie. Doch Liwa spürt da keinen Neid, ihn ficht so etwas prinzipiell nicht an, schon weil er niemand ist, der sich messen muss. Drei Jahrzehnte Kultur, und sich dabei nicht den Hauch verbiegen zu lassen: Das verdient höchste Anerkennung. Nur logisch, dass man dabei irgendwann die Sinnfrage als solche aufwirft.

Doch dann kam es anders. Auch in Liwas privatem Leben veränderten sich grundlegende Strukturen und Lebensentwürfe. Da war etwa der Rollentausch mit der Mutter seiner drei Duisburger Kinder und die damit verbundene Übergabe der gemeinsamen Wohnung. Liwa befreite sich konsequent von allem und erklärte sich vorübergehend als „freiwillig heimatlos. Ich war unterwegs quer durch Deutschland, trat kurz vor Weihnachten in Berlin auf, was sich sehr nach letztem Auftritt anfühlte, und verbrachte Sylvester allein auf einem Permakulturbauernhof in der Nähe von Straubing. Irgendwie musste ich alles loslassen, woran ich mich vorher festgehalten hatte – Familie, Freundin, Heimat, Künstleridentität – um festzustellen, was dann eigentlich von mir übrig bleibt.“ Bemerkenswerterweise fing Liwa genau in dem Moment wieder wie von selbst an, Songs zu schreiben. „Ich habe festgestellt, dass man, wenn man sich von allem lossagt, umso besser wieder in die Dinge hinein gehen kann“, erklärt er seine auch für ihn selber unerwartete Kehrtwende. „Denn was tatsächlich übrig blieb nach dem Loslassen war eben der Drang, zu schreiben und mich zu äußern.“ Und so schrieb er – autobiografische Skizzen über längst Vergangenes. Prosastücke. Lyrik. Aber eben auch: Songs.

Obendrein gab es da eben die Band. Drei der Vier spielen seit 30 Jahren zusammen, „und natürlich hatte ich ein schlechtes Gefühl, einfach alles hinzuschmeißen. Auch das sind ja auf eine Art familiäre Zusammenhänge.“ Mit der Lust am Schreiben kehrte also auch die Lust an der Band zurück. Anders als bisher war aber der Ausgangspunkt ein neuer: Anstatt von der Innenbetrachtung ins Veräußern zu kommen, wurde das Äußere – konkret: der Kulturbetrieb – betrachtet, abgeglichen und analysiert. Bis hin zum Schlachten der eigenen 'heiligen Kühe', man höre hierzu nur „Jahre des Verrats“ – ein Song über den ehemaligen  Held Bob Dylan und seinen Platz in der Massenkultur. Oder, der Titel sagt es schon, „Falsch bei Neil Young“, in dem Liwa seine Eindrücke eines Young-Konzerts auf der Waldbühne widergibt. Es geht aber auch humorvoll statt ernüchtert, siehe das feixende Augenzwinkern in „Wir sind die Beatles“. Dabei  wurde die eigene Musiksozialisation zum Thema und Ausgangspunkt für ein gedankliches Duell seiner scharfzüngigen Konsumkritik. Songs als 'offene Briefe' an ehemalige Idole, aber auch sich selbst und die eigenen Überzeugungen.

Songs von solcher Tragweite kann man nicht einfach im Tonstudio an der Ecke aufnehmen; auch hier musste eine andere Strategie her. Daher: kein Studio. Sondern der Kellerraum ihres Schlagzeugers Giuseppe Mautone. Dort trafen sich Liwa, Mautone, Pianistin/Organistin Birgit Quentmeier und Bassist Markus Steinebach, ließen sich von der guten Freundin Antje Volkmann exquisit technisch betreuen und produktionell beraten – doch vor allem machten sie einfach, was kam. Ohne zu hinterfragen, abzubrechen oder jemals zu sagen: das geht nicht. Stattdessen: Ein für alle neuer 'Stream of Unconsciousness', bei dem ganz bewusst das Unbewusste die Richtung definiert. Zu Liwas eigener Überraschung erhielt die Platte dadurch während der Arbeit eine zweite Ebene: Auf einmal ging es doch zurück ins Innere, das Persönliche. Es entstanden weitere Songs, die in ihrer Gegensätzlichkeit kaum weiter auseinander liegen könnten. Da sind einerseits die erst durch eine Banjo-Leihgabe inspirierten Folk-Minimalismen wie der Opener „Hayonedop“ oder Liwas zum Folklied geronnener innerer Dialog über den „Trost der Dinge“, der immer mehr Menschen ihre Einsamkeit koloriert und dabei eben vieles ist, nur kein echter Trost. Man hört aber auch getragenen Indie mit sensiblem Schlagzeug, sehnsüchtiger Hammondorgel und pointiert eingesetzten, atmosphärischen Hallgeräuschen, der dem Album bei aller Gelassenheit etwas unterschwellig Extravagantes verleiht und mehr nach New York klingt als nach Ruhrgebiet.

Auch klar, dass ein Song mit dem Titel „Fünf Tote in Blablabla“ den allgemeinen Geselllschaftspessimismus auch klanglich mit seltsam schräg hängender Funkyness sowohl überhöht als auch karikiert: Genau das ist eben diese künstlerische Ganzheitlichkeit Tom Liwas. Künstlerisch weiter raus als je zuvor ging es für die band aber mit dem progressiv ausufernden „Hochmoor“ und ist circa eine Flowerpornoe-Vision von Folk-instrumentiertem Freejazz und Krautrock. Ihre „Nichts ist verboten“-Freigeistigkeit verdichtet sich in „Hochmoor“ in besonderer Weise: Die auf der CD enthaltene, bereits zwölf Minuten lange Version ist in Wahrheit ein „Edit“ des eigentlichen Stücks (nur deshalb, weil auf eine CD eben „nur“ 76 Minuten passen); die eigentliche Version, noch mal acht Minuten länger, findet man daher ausschließlich auf dem Doppel-Vinyl von „Umsonst & Draußen“.

Es scheint eine kurios schicksalhafte Ironie zu sein, dass ausgerechnet die geplante Abkehr von der Musik letztlich zu Tom Liwas ausuferndstem Album geriet. Es ist mit 20 wunderbar erdig, authentisch und unverfälscht aufgenommenen Songs eine Entdeckungsreise, bei der nicht jedem alles gefallen wird. Aber das soll es auch nicht: „Mir ist bewusst, dass ein Werk von einer solchen Länge eine Herausforderung für jeden Hörer ist – vielleicht sogar ein Ansinnen“, lacht Tom. „Aber mir gefällt der Gedanke, dass man mit dem Album wächst und immer mal wieder einen anderen Song entdeckt. Und manche vielleicht nie.“ Und warum der Titel? „Das ist einerseits eine Reminiszenz an eine unabhängige, kapitalismusfreie Festivalkultur, wie wir sie in den späten 70ern kennenlernten und heute kaum noch finden. Und andererseits wegen der schönen Mehrdeutigkeit – umsonst kann ja auch vergeblich bedeuten, draußen so etwas wie 'far out'. Und weil wir glauben, dass die wirklich wichtigen Dinge im Leben eben umsonst und draußen sind.“

Tatsächlich gab es – auch das: zu Toms echter Überrschung – eine ganze Handvoll Plattenfirmen, die großes Interesse an der neuen Platte zeigten. Letztlich scheint es aber Schicksal und in gewisser Weise überfällig, dass Liwa und seine Flowerpornoes nun beim Grand Hotel andockten. „Viele der neuen Songs handeln explizit oder im Subtext von unserer ambivalenten und dennoch leidenschaftlichen Liebe zur Musik und von der Unmöglichkeit, in industriellen Zusammenhängen authentische Kunst zu produzieren“, sagt Liwa abschließend. „Würde nun irgendein anderes Label schreiben, Tom Liwa mit Flowerpornoes sei heißer Scheiß, würden die Leute denken: 'Achtung! Promo!'. Wenn GHvC das schreibt, denken die Leute, es ist so. Und da es in unserem Fall stimmt, ist das mit mir mehr als okay.“

Das neue Album von Tom Liwa mit Flowerpornoes heißt "Umsonst & Draußen" und erscheint am 23.10.2015 auf Grand Hotel van Cleef. Das Album erscheint als CD, Doppel-LP mit Downloadcode sowie als digitaler Download.

Sascha Krüger